„Folge mir“, ein experimentelles Drama über den in völliger Apathie und Verwahrlosung endenden Zerfall einer scheinbar normalen Familie, dürfte Freunden avantgardistischer Schauspiel-Theorien gefallen – und wahrscheinlich auch fast nur diesem Zuschauer-Typus. Johannes Hammels Film merkt man die beinahe jugendlich wirkende Freude am Austoben seiner Vorstellungen von ästhetischen Provokationen deutlich an. Weder der Plot noch die Schwarz-Weiß-Bilder sind die zentralen Elemente von „Folge mir“, sondern die zahlreichen Irritationen und Verfremdungen. Dieses ständige ironische Augenzwinkern ist nicht nur anstrengend, es wirkt auch ziemlich angestrengt.
Die Darsteller sagen ihren Text eher auf als dass sie ihn sprechen. Und damit der Zuschauer auch wirklich versteht, dass Hammel weg will vom naturalistischen Schauspiel, müssen die Akteure immer wieder direkt in die Kamera schauen, um den Illusionismus des Kinos zu brechen und die Künstlichkeit allen Filmschaffens offen zu legen. Diese gezielte Entfernung von einer realistischen Inszenierung wird am deutlichsten in den vielen bis zur Karikatur übertriebenen Szenen, die durch zeitliche Überdehnung aus komischen Momenten bloße Albernheiten machen, die bald schon überhaupt nicht mehr amüsant, sondern nur noch nervig sind.
Die meisten Szenen dieser Art muss Roland Jaeger als Familienvater stemmen: Die unterdrückte Wut seiner Figur schafft sich sukzessive mehr Raum und manifestiert sich in Aggressionen und autodestruktiven Handlungen. Minutenlang sehen wir zu, wie er einem kompensatorischen Putzzwang verfällt, eine Zimmerwand ekstatisch kaputt schabt oder den Weihnachtsbaum als Symbol der familiären Idylle in Klebeband einwickelt und weg wirft. Die schizophrene Mutter – wie in Buñuels „Dieses obskure Objekt der Begierde“ von zwei Darstellerinnen (Daniela Holtz, Charlotte Ullrich) gespielt – stürzt sich aus Frust in eine Fressattacke von der Subtilität einer Grundschul-Theateraufführung und scheitert daran, das Fahrrad-fahren zu erlernen, um ihrer bedrückenden Familie und der bedrückenden Wohnung in einem Industriehafen entfliehen zu können. Und zuletzt wäre da noch der Religionslehrer Denoth (Karl Fischer), dessen einzige Charaktereigenschaft der Sadismus zu sein scheint, was anfangs noch lustig ist, dann aber rasch langweilt und flach wirkt.
Aber der einstige Kameramann Johannes Hammel interessiert sich ohnehin nicht sonderlich für die narrative Ebene, schließlich werden scheinbar wichtige Erzählstränge – allen voran die anfangs zentrale Frage nach den Auswirkungen einer repressiv-religiösen Erziehung – mit zunehmender Dauer immer stärker vernachlässigt. Stattdessen verschiebt sich der Schwerpunkt auf stilistische Elemente: Zwar macht Hammel aus den visuellen Qualitäten der Schwarz-Weiß-Bilder erstaunlich wenig, dafür montiert er aber mehrfach 8mm-Material in Form farbiger Home-Video-Aufnahmen aus den 70er-Jahren dazwischen und überdeckt den Filmstreifen häufig mit abstrakt wirkenden Farbklecksen. Dieser paradoxe Kontrast aus farbigen Bildern der Vergangenheit und schwarz-weißen Repräsentationen der Gegenwart ist von raffinierten Übergängen und Konvergenzen geprägt. Scheinbar ist das Drehbuch zu „Folge mir“ in Anschluss an Szenen der alten Privat-Aufnahmen geschrieben worden.
Hammels Film irritiert nicht nur durch den Anti-Naturalismus des Schauspiels und die Vermischung verschiedener Materialquellen, sondern auch durch fragmentarische Szenen, achronologische Sprünge und einige Sequenzen, von denen ungewiss bleibt, ob sie der Realität oder der Imagination der Mutter entstammen. „Folge mir“ gleicht sich zu diesem Zweck der gestörten Wahrnehmung der psychisch labilen Hauptfigur an, wie man es beispielsweise aus „Fight Club“ oder „Vertigo“ kennt. Damit überträgt der Film die Verwirrung und Unsicherheit der Protagonistin auf den Zuschauer. Die zusätzliche Verfremdung durch das bewusst anti-realistische (und nicht etwa versehentlich unrealistische) Schauspiel ist an sich auch kein Mangel, schließlich geht es für Hammel eben gar nicht um Glaubwürdigkeit oder eine Kontinuität der affektiven Einbindung des Zuschauers, sondern um die Idee des Illusionsbruchs. Diese Konzeptlastigkeit geschieht freilich nicht unbedingt zugunsten des Sehvergnügens und wirkt mitunter – so zum Beispiel am abrupten Ende, wie es in keinem Film mit unbedingtem Kunstwillen mehr fehlen darf – auch ziemlich prätentiös.
Folge mir
(Österreich 2010)
Regie: Johannes Hammel; Drehbuch: Johannes Hammel; Kamera: Johannes Hammel, Joerg Burger; Schnitt: Johannes Hammel; Musik: Heinz Ditsch; Darsteller: Daniela Holtz, Roland Jaeger, Charlotte Ullrich, Simon Jung, Karl Fischer;
Länge: 109 Minuten
Verleih: Hammelfilm