Around the World in 14 Films – Leap Year

Wenn man mit Freud davon ausgeht, dass Sexualität und Aggression – Eros und Thanatos – die beiden stärksten Triebe des Menschen sind, ist es nicht weiter verwunderlich, dass sich diese zwei Urkräfte der menschlichen Natur mitunter auch mal vermischen. Der Sadomasochismus ist ein solcher Ort, an dem Lust und Gewalt ineinander fließen.
Der vielleicht berüchtigste Kunstfilm über sadomasochistische Praktiken – Nagisa Ôshimas Im Reich der Sinne (Ai no korîda, 1976) – stammt nicht zufällig aus Japan. Schließlich kommt der Kunst gerade dort die wichtige Funktion des Ventils für befreiende Triebdurchbrüche zu, wo die Kultur die stärksten Triebverzichte fordert. 34 Jahre nach Ôshimas Skandalfilm greift nun das mexikanische Werk Leap Year (Año bisiesto) des australischen Regisseurs Michael Rowe das selbe Thema auf, zitiert Im Reich der Sinne auch mehrfach explizit, versteigt sich aber nicht zu ähnlich drastischen Bildern wie Ôshima.

Leap Year beginnt als Drama über urbane Anonymität und Einsamkeit. Die junge Journalistin Laura (Monica del Carmen) ist ein Fremdkörper in der Metropole Mexico City. Von zu Hause aus arbeitend, verfügt sie kaum über Bekanntschaften und zieht sich nach und nach immer mehr zurück in ihr kleines Apartment. Das eigene Heim entwickelt sich vom Zufluchtsort und Raum der Privatsphäre zu einem einengenden Kokon, aus dem Laura traurig auf all das schaut, was sie vermisst (und alle anderen Menschen um sie herum zu besitzen scheinen): Freunde, Nähe, Zweisamkeit.
Laura versinkt immer tiefer in der lähmenden Umklammerung der Depression. Gleichzeitig verschließt sie sich emotional: Statt Mutter und Bruder von ihren Sorgen und Nöten zu berichten, steigert sie sich am Telefon in Illusionen des Glücks hinein, täuscht ein erfülltes Leben vor – was die karge Realität umso unerträglicher werden lässt. Mit an einen bestimmten Ort, aber unterschiedliche Momente gebundenen Match Cuts setzt der Film diese scharfen Gegensätze von ‚Heiler-Welt’-Projektion und trauriger Wirklichkeit inszenatorisch geschickt um.
Auch gegenüber ihren menschlichen Betäubungsmitteln – aus umliegenden Clubs abgeschleppten One-Night-Stands – lässt Laura keine wahre Nähe zu. So muss sich das aufgestaute Leid letztlich gegen Laura selbst wenden – das sadistische Über-Ich entlädt sich durch gegen das Ich gerichtete Aggressionen: Die Geburt des Masochismus.

Leap Year ist nicht nur ein erfrischend unprätentiöser Erzählfilm, ein packendes Kammerspiel, das fast ausschließlich in Lauras Wohnung statt findet. Sondern Regisseur Michael Rowe gelingt mit seiner Darstellung einer sadomasochistischen Beziehung auch lange Zeit eine kluge Destigmatisierung devianter Sexualpraktiken. Den durchaus deftigen Sexszenen lässt er immer wieder Bilder folgen, in denen die selben Menschen ganz sanft und liebevoll miteinander umgehen. Indem Rowe die schockierenden Sex/Gewalt-Akte ebenso wie die unmittelbar darauf folgenden Zärtlichkeiten den selben Figuren zuschreibt, trennt er den Sadomasochismus vom Perversen und Pathologischen, dessen Stigma ihm bis heute in der öffentlichen Wahrnehmung anhaftet.
Zudem unterläuft Rowe gezielt das simplifizierende Klischee der alt-feministischen Pornographie-Kritik, nach dem der Mann immer der böse Sadist und die Frau immer das passive Opfer ist. In Leap Year ist es gerade die Frau, welche die S/M-Praktiken initiiert, einfordert und immer weiter treibt, weil sie Lust an der Unterwerfung empfindet und dadurch auch in ihrer masochistischen Rolle souverän bleibt.

Gerade diese zwei Effekte – die moralische Liberalisierung des gesellschaftlichen Sexualitäts-Diskurses sowie die Subversion genderpolitischer Dichotomien – sind es, die zu den wichtigsten Verdiensten sexuell transgressiver Autorenfilme (Romance, Intimacy, 9 Songs, Shortbus) zählen, weil sie die öffentlichen Einstellungen gegenüber nach wie vor bestehenden Tabuthemen aufzuweichen helfen.
Leap Year verpasst am Ende die Chance, sich in diese Reihe emanzipatorischer Sex-positive-Filme einzureihen, wenn Rowes Skript die nicht erklärungsbedürftigen sexuellen Präferenzen seiner Protagonistin doch noch mittels reduktionistischer Küchen-Psychologie herleitet. Die letzten Minuten konstruieren eine mechanistische Kausalkette, in der ein Kindheitstrauma zur späteren Depression führt und diese wiederum den Masochismus hervorruft, der sich bei Laura bis zur Todessehnsucht (der ultimativen Form des introjizierten, ursprünglich jedoch nach außen gerichteten Aggressionstriebs) potenziert. Anscheinend brauchen wir noch 100 Jahre nach Freuds Postulat des Thanatos eine beruhigende, illusorische Erklärung, warum etwas sein kann, das doch eigentlich nicht sein darf.

Leap Year
(Año bisiesto, Mexiko 2010)
Regie: Michael Rowe; Drehbuch: Michael Rowe, Lucia Carreras; Kamera: Juan Manuel Sepulveda; Schnitt: Óscar Figueroa; Darsteller: Monica del Carmen, Gustavo Sánchez Parra, Armando Hernández, Marco Zapata
Länge: 92 Min.
Verleih: Pyramide International

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