Die innere Unsicherheit

Die StudentInnen von heute haben es bekanntlich schwer: Die angedrohten Studiengebühren, die aufgrund der Personalkürzungen erschwerten Studienbedingungen, die unklaren Berufsperspektiven. Von alledem ist in Thomas Durchschlags Drama, das im Studentenmilieu der Universitäts- und Industriestadt Essen spielt, allerdings nicht die Rede. Zumindest nicht explizit. Denn das Gefühl der Unsicherheit und Desorientierung wird sehr wohl vermittelt, wobei es bei der Protagonistin Maria (Lavinia Wilson) eher „von innen“ zu kommen scheint. „Ich habe meine eigene Welt! Sie ist hier drin!“ – sagt sie im Laufe des Films ihrem unverständigen Geliebten Jan (Maximilian Brückner). Was in einem anderen Kontext kein Grund zur Sorge wäre und sogar eine kreative, unangepasste Einstellung zum Leben bekunden würde, hat in Durchschlags Film die Bedeutung eines Alarmsignals, denn ihr „Anderssein“ bringt Maria nur Leiden. Sie ist nicht nur anders, sondern auch (und vor allem) krank. Oder soll der Zuschauer hier sogar ein Gleichheitszeichen setzen? Wie „anders“ darf der Mensch sein, bis ihm eine Krankheit attestiert wird?

Maria praktiziert gelegentlichen Alkoholmissbrauch, exzessive Clubauftritte und „lässt sich von Männern ficken“ (wenn man ihrem etwas (selbst)diskriminierenden Ausdruck folgt), die sie kaum kennt. Da haben wir schon fast alle „Symptome“ zusammen, die es dem Drehbuch erlauben, die Heldin als psychisch krank abzustempeln und zu einer Therapie zu verpflichten (die sie unverantwortlich vernachlässigt). Hinzu kommt freilich noch der Drang, sich selbst mit der Klinge zu verletzen – eine Obsession, die an Hanekes „Klavierspielerin“ erinnert. Dort wurde das allerdings nie mit einer bestimmten psychischen Störung in Verbindung gebracht, was eine ambivalente und metaphorische Deutung erlaubte. Bei Durchschlag wird die Selbstverletzung, genauso wie alle anderen Auffälligkeiten in Marias Verhalten, zu einem rein medizinischen Problem. Der Zuschauer verspürt dementsprechend keine besondere Motivation, sich in die innere Welt der Heldin einzufühlen, zumal sie durch ein paar Therapiesitzungen vermutlich wieder „normalisiert“ werden kann. Und von dem, was „normal“ ist, scheint der Film einen klaren Begriff zu haben, was er auch in den Sexszenen deutlich zum Ausdruck bringt. Der „schlechte“ Sex mit dem ungeliebten, älteren Wolfgang (Richy Müller) hat einen unverhohlenen Sado-Maso-Touch, während die sexuellen Begegnungen mit Jan, die auf gegenseitiger Liebe und Respekt aufbauen, keine „Abweichungen“ aufweisen. Jan steht, im Gegensatz zu seinem Rivalen, für Zärtlichkeit und respektvolle Zurückhaltung, was ihn zu Beginn der Beziehung sogar vor das „Problem des Josef von Ägypten“ stellt, als er Maria, die einen zu schnellen körperlichen Annäherungsversuch unternimmt, allein in ihrer Wohnung zurücklässt. Jedenfalls kann sie sich – der Logik des Films nach – sicher sein, dass es ihm nicht allein um Sex geht. Jetzt scheint dem Glück zu zweit nichts mehr im Wege zu stehen, außer Marias psychischer Labilität…

Mit seinem Langfilmdebüt „Allein“ ist Thomas Durchschlag leider nicht nur inhaltlich ein Studenten-Film gelungen: Die Kameraeinstellungen wirken oft beliebig, die Regiearbeit ist durch zahlreiche Unsicherheiten ausgezeichnet, und von der schauspielerischen Leistung her weiß nur Richy Müller in seiner Nebenrolle zu überzeugen. Doch gerade darin liegt erstaunlicherweise der Charme des Films begründet, der dank seiner formalen Unausgewogenheit den Eindruck einer Independentproduktion erweckt und mit der Illusion spielt, dem Zuschauer mehr preiszugeben, als die Macher eigentlich beabsichtigten. Denn stellenweise scheinen die Figuren der führenden Regiehand zu entgleiten und so ein Eigenleben zu entwickeln, das am ästhetischen Konzept (aber auch an abgenutzten visuellen Klischees) vorbei einfach so dahinplätschert und somit die Freude am Zuschauen aufrechterhält.

Die im Film vorherrschende Stimmung der Melancholie, die die subjektiv empfundene Einsamkeit der Hauptheldin widerspiegelt, kann auch allgemein auf die aktuelle Situation an den deutschen Universitäten übertragen werden. Eine Studentin, die zwischen dem zahlungsfreudigen, aber sich dominant aufführenden älteren Verehrer und dem jugendlichen, romantischen Liebhaber steht, gibt ein sehr treffendes Bild für die Zerrissenheit des deutschen Hochschulwesens angesichts der bevorstehenden Reformen ab. Jedenfalls darf das Studentenleben, wie es im Film vorkommt, in dieser Form bald nicht mehr so oft anzutreffen sein. Denn wir sehen Maria nie im Auditorium oder beim intensiven Lernen. Wenn sie an der Uni auftaucht, dann meist zum Mittagessen in der Mensa oder zu einem entspannten Spaziergang durch das Universitätsgelände. An ihrem Arbeitsplatz in der Universitätsbibliothek ist sie überwiegend mit dem Tagträumen und Nachdenken beschäftigt (bis sie den Job schließlich verliert, weil sie systematisch zu spät kommt). Dieser Studententyp hat jetzt schon etwas nostalgisches an sich und muss demnächst wahrscheinlich ganz verabschiedet werden. Ob das neue leistungsorientiertere Hochschulsystem alte Studentenneurosen heilen oder vielmehr neue schaffen wird, muss allerdings vorerst offen bleiben.

Allein
(Deutschland 2004)
Regie: Thomas Durchschlag; Buch: Thomas Durchschlag; Kamera: Michael Wiesweg; Schnitt: Ingo Ehrlich; Musik: Maciej Sledziecki
Darsteller: Lavinia Wilson, Maximilian Brückner, Richy Müller, Victoria Mayer u.a.
Länge: 88 Minuten
Verleih: Zorro (Filmwelt)

Ekaterina Vassilieva-Ostrovskaja

Schreibe einen Kommentar

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.