8½ Jahrzehnte Kino – eine Liebeserklärung

Schon mit dem Prolog kriegt er uns. Auf gerade einmal vier Seiten erzählt er da eine Geschichte zum vorangestellten Bild einer schönen Frau. Wie großes Kino ja überhaupt so oft vom Bild einer schönen Frau ausgeht. Godard sagte, für einen Film brauche man nicht mehr als ein Mädchen und einen Revolver. Und sein ewiger Antipode Truffaut war der Ansicht, Filme machen bedeute, schönen Frauen bei schönen Dingen zuzusehen. Dominik Graf und sein Herausgeber Michael Althen, der ein schönes Vorwort beisteuert, verstehen freilich, dass zur Schönheit etwas Weiteres hinzukommen muss: die Traurigkeit. Das Mädchen aus dem Bild ist noch nicht sehr traurig, eher hoffnungsfroh wartend; doch die Traurigkeit schwebt bereits über ihr, wird später umso brutaler zuschlagen. Das Mädchen stammt aus dem Film „L’Ainé des ferchaux“ von Jean-Pierre Melville, einem der allergrößten französischen Filmemacher überhaupt, und Dominik Graf erzählt nicht nur diese kurze Sequenz am Anfang dieses bestimmten Filmes nach. Gleichzeitig erzählt er davon, was das Kino mit uns machen kann.

grafbuchGrafs Textsammlung „Schläft ein Lied in allen Dingen“ leiht sich ihren Titel von einem berühmten Gedicht Eichendorffs, und ebenso wie der Romantiker glaubt Graf fest daran, dass es jenes „Zauberwort“ zu treffen gelte, das dann eine ganze Welt zum Singen bringt und ihre Schönheiten entfesselt. Hier ist es freilich die Welt des Kinos, in sich ja bereits eine Zauberwelt, ein Ort voller Magie, die es an entlegensten Orten aufzustöbern und neu zu beschwören gilt. Graf, selbst ja einer der klügsten, interessantesten und in gewissem Sinne auch bestversteckten Filmemacher, die Deutschland in diesem Jahrzehnt zu bieten hatte, findet sie vornehmlich dort, wo sie eigentlich kaum noch jemand sucht: „an den Rändern des Mainstream“, so formuliert er es selbst. Auch sein eigenes Werk scheint ja immer wieder nach den strengen Vorgaben formelhafter Genrestrukturen und Formate zu streben, um dem unbändigen Schwelgen in Bildern, Atmosphären, Charakteren und Erzählungen ein formales Gerüst zu geben – und ebendiese Verbindung von Lyrizität und Professionalität entdeckt Graf auch in den manchmal kanonischen, öfter vergessenen Schubladen und Nischen der Filmhistorie immer wieder. Dabei ist ihm, man spürt es überdeutlich, alle Konsensfilmerei, aller cineastischer Kontrollfetisch auch, ein Gräuel: Sein Herz gehört den Außenseitern, den Missachteten, Verstoßenen der Filmgeschichte, den Nebenwerken ebenso wie den films maudits. Die Reise durch das Weltkino führt ihn in diesem Band durch (wie passend:) 8½ Jahrzehnte, von Murnaus „Der Gang in die Nacht“ bis Wolfgang Bülds „Twisted Sisters“, durch das deutsche, amerikanische, britische, französische, italienische und osteuropäische Kino, mit einem deutlichen Schwerpunkt auf den 70er Jahren und ihrem großen Traum der Versöhnung von Kunstfilm und Genrekino.

They don’t make ’em like this anymore, so immer wieder der Stoßseufzer Grafs, und hierin liegt vielleicht auch die einzige kleine Schwäche dieses wundervollen Buches: Immer wieder klagt der Autor über den Zustand des Kinos in diesen Jahren. Vom Blockbuster zerstört, geglättet, von Spielberg & Lucas in Tätereinheit ermordet. Natürlich ist das alles nicht ganz falsch und spricht so manchem Cinephilen (so auch dem Rezensenten) ein Stück weit aus dem Herzen – es ist aber auch zu einfach. Natürlich hat auch das heutige Kino allerlei Herrlichkeiten zu bieten, auch wenn die Poesie, die Tiefe und Menschlichkeit manchmal ein wenig anders verpackt daherkommen. Wenn Graf über aktuelles Kino spricht, dann tut er dies meist, um zu verreißen. Spielbergs „Minority Report“ etwa, oder Jeunets „Un long dimanche de fiançailles“. Das kann man so hinnehmen, ihm auch oft weitgehend rechtgeben – allein, man kann halt auch fragen, warum er nicht über Wes Anderson schreibt statt über Jeunet; über jenen großen und ganz gegenwärtigen Filmemacher, der hinter ebenso artifiziellen Bildern so unendlich viel Traurigkeit, Klugheit und Wahrheit versteckt.

Aber dieser kleine Kritikpunkt soll nicht vom Wesentlichen ablenken: „Schläft ein Lied in allen Dingen. Texte zum Film“ ist ein furioses Buch, eine Liebeserklärung an das Kino, an seine großen und an seine vergessenen Meisterwerke. Graf gelingt das Kunststück, in der Perspektive auf seine Gegenstände stets gleichzeitig global und mikroskopisch zu sein: mit größter Klarheit in der Kontextualisierung einzelner Filme und ihrer Einordnung in die Kinogeschichte, sowie mit schärfstem Blick in seiner Beschreibung einzelner Sequenzen, Momente, Details, die ganze Filme, ganze cineastische Weltsichten auf einen konzentrierten Punkt bringen können. Nicht zuletzt macht er damit vor allem große Lust darauf, all diese Filme zu sehen, wiederzusehen oder neu zu sehen – und darauf, selbst fortan mit ebensolcher Liebe zum Kino auf Entdeckungsreise durch die Filmgeschichte zu gehen. Schöneres kann ein Filmbuch kaum leisten.

Dominik Graf:
Schläft ein Lied in allen Dingen. Texte zum Film
Herausgegeben und mit einem Vorwort von Michael Althen
Alexander Verlag: Berlin 2009
376 Seiten (Paperback), 19,90 Euro

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