11 Jahre Riget – 10 Jahre Dogma 95

Die narrative Vorgabe kam von David Lynch: Man überforme das Konzept einer Fernsehserie so, dass sie zum Ausagieren von ästhetischen und narrativen Neuerungen eingesetzt werden kann. Mit „Twin Peaks“ hatte Lynch dies Ende der 80er und Anfang der 90er Jahre erfolgreich in die Tat umgesetzt: Eine Soap mit Mystery-, Krimi-, Coming-of-Age- und Americana-Elementen. 1994 hat Lars von Trier das Konzept aufgegriffen und seine eigene Version einer Krankenhausserie inszeniert: Die ersten beiden Staffeln seines „Riget“ (Geister) sind nun in einer DVD-Box erschienen.

So unmöglich es ist, „die Geschichte“ einer Fernsehserie als geschlossene Narration nachzuerzählen, umso verwegener erscheint dies bei „Riget“. Ist es eine Serie über Krankheit und Gesundheit, über den Konflikt von Wissenschaft und Aberglaube, über die Dialektik der (medizinischen) Aufklärung, über nationale Stereotype (Schweden vs. Dänemark) , über Behinderung, …? „Riget“ aspektiert all diese Phänomene und Probleme, fügt sie zu einer Fortsetzungsgeschichte zusammen und ist doch mehr als die Summe dieser Teile. Lars von Trier hat 1994 mit seiner TV-Soap einen Testballon abgeschossen, der gleichzeitig den Startschuss für eines der letzten ästhetisch-avantgardistischen Experimente des Kinos einläutete: Dogma 95.

Wie die darauf folgenden Filme ist „Riget“ mit minimalem technischen Aufwand entstanden. Die Vorgabe (das „Dogma“), möglichst vollständig auf Beleuchtungs-, Ton- und Kameratricks zu verzichten, verfolgt „Riget“ jedoch noch nicht mit jener Radikalität, die Filme wie „Idioterne“ (Dk 1998), „Mifune“ (Dk 1999) oder „Festen“ (Dk 1998) auszeichnet. Doch die Handkamera und die typische Körnigkeit des lichtempfindlichen Filmmaterials, welches für die weitestgehend Kunstlich-losen Szenen notwendig war, stechen gleich zu Beginn ins Auge. Der durchgängige Sepiaton, der die „alten Zeiten der Bleicher“ heraufbeschwört, die das Hospital der Geister so sehr in seinem Sosein beeinflussen, die Invers-Bilder und die grün gefilterten Geister-Perspektiven stehen hingegen noch im Kontrast zur Dogma-Ästhetik.

Das mittlerweile beendete Dogma-95-Experiment war zu ambitioniert, zu avantgardistisch, um breitenwirksam erfolgreich sein zu können – in der vollentwickelten Filmindustrie kann sich ein Spartenereignis wie dieses offenbar nicht lange behaupten. Das ist vielleicht der Grund für den nachhaltigen Erfolg von „Riget“: die mangelnde Radikalität verbunden mit der Ablehnung einer gewöhnliche TV-Soap-Ästhetik. Imdem sich die Serie zwischen beiden Extremen ansiedelt, wird sie zum geheimen Vorbild für ein Format, das seither die Mittags- und Nachmitagsprogramme der Privatsender dominiert: Scripted Reality – Erzählungen, wie sie das Leben hätte geschrieben haben können, inszeniert wie ein Dokumentarfilm – die Verschleierung des Inszenierten. „Riget“ ist so „radikal banal“ noch nicht. Seine Geister und obskuren Protagonisten desavouieren den Realitätseffekt, den die Bilder heraufbeschwören, beständig.

Damit alles trotzdem irgendwie echt wirkt, muss es „schlecht“ sein. Die Körnigkeit und das Wackelige des Bildes entstammen einer Homevideo-Ästhetik, die sich für die Authentzität des Gezeigten verbürgt. KOCH Media es geschafft die Serie „adäquat schlecht“ auf DVD zu reproduzieren, einem Medium, das eigentlich ein exakt gegenteiliges Qualitätsversprechen gibt. Neben den 8 Folgen der beiden Stafeln (eine dritte Staffel scheint in Planung zu sein, glaubt man dem auf der DVD enthaltenen Interview mit Udo Kier) befinden sich etliche Interviews, Audiokommentare, ein Musikvideo und mehrere Werbefilm-Clips von Lars von Trier mit in der Box.

Geister/Riget
Dänemark 1994/7
Regie: Lars von Triert & Morten Arnfred.
Länge: 580 Min.
Ton: DD 2.0 (deutsch & dänisch mit dt. UT)
Extras: Audiokommenare, Behind the Scenes, Werbespots, Musikvideos, Portrait zu Lars von Trier u.a.
Anbieter: KOCH Media

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Stefan Höltgen

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