„Wir sind hier alle Zeitbomben.“

„Deine Frau ist potthässlich, deine Kinder verachten dich, dein Haus ist eine Müllhalde und du hasst dein Leben!“ – „So ein Leben führen die meisten Menschen …“

Dieser Dialog zwischen dem abgewrackten Polizisten Schneider (Daniel Auteuil) und seinem etwas weniger verkommenen Partner bringt den finsteren Tonfall von Olivier Marchals „MR73“ auf einen nachdrücklichen Punkt. Bereits die ersten Minuten stellen klar, dass Schneider ganz unten angekommen ist. Stockbetrunken und mit vorgehaltener Dienstwaffe nimmt er da einen ganzen Linienbus zur Geisel und zwingt den Fahrer, ihn nach Haus zu fahren. Der Vorfall wird vertuscht, als Schneider mit vollgepisster Hose in der Ausnüchterungszelle zu sich kommt, doch zur Strafe wird dieser offensichtliche Antiheld versetzt. An den Beschwerdetisch, in die Nachtschicht. Wie könnte man einen Polizisten noch stärker demütigen?

„MR73“ ist Olivier Marchals dritte Regiearbeit und schließt eine Trilogie von Polizeifilmen ab, die sich von der eher glatten Genrearbeit „Gangsters“ über den epischeren „36 Quai des orfèvres“ bis zu diesem radikalen Schlusspunkt hin konsequent verfinstert hat. Die Welt, die er porträtiert, ist brutal, korrupt, unmoralisch und ganz und gar hoffnungslos, ihre Helden sind im Innersten verwundet und von Hass zerfressen. Wohl nicht zufällig besetzt Marchal in der Rolle eines bald 70jährigen psychopathischen Mörders und Vergewaltigers Philippe Nahon, der dem Publikum vor allem aus Gaspar Noës Meisterwerken „Carne“, „Seul contre tous“ und „Irréversible“ bekannt sein mag. Eine weitere Trilogie, in der ein radikal fatalistisches Bild vom Menschen und der Gesellschaft zum Ausdruck kommt, und beinahe scheint es, als habe Olivier Marchal so etwas wie eine klassizistische, ans Genrekino zurück gebundene Variation auf Noës Filme im Sinn gehabt.

Das heißt freilich nicht, dass „MR73“ nicht die Regelwerke seines Genres bricht. Einer konventionellen Spannungsdramaturgie verweigert sich Marchals Regie nämlich völlig; nicht einmal einen eindeutigen roten Faden spannt er, der die Handlungsfäden und Protagonisten miteinander verknüpfen würde. Zwei Serienmörder und Vergewaltiger sind es, die in diesem Film ihr Unwesen treiben. Einer in der Gegenwart und einer in der Erinnerung von Justine, deren Eltern vor Jahrzehnten vor ihren Augen abgeschlachtet wurden. Der erste Mörder wird bald zur Strecke gebracht, der zweite wird erst gegen Ende vorzeitig aus dem Gefängnis entlassen. Der Zusammenhang zwischen beiden Erzählsträngen bleibt ungeknüpft, und scheint gerade deshalb umso niederschmetternder. Es ist einfach eine Zeit der Vergewaltiger und Mörder, von der Marchal uns erzählt.

„I stepped into an avalanche / It covered up my soul“, singt Leonard Cohen im Vorspann, und eiskalt und ungerührt bleibt „MR73“ bis zum bitteren, blutigen Ende. Es ist eine Welt, die keine Bewegung mehr zulässt jenseits einer unaufhaltsamen Eskalation, das Kind, das schließlich geboren wird, spendet keinen Hoffnungsschimmer, sondern trägt lediglich den Schmerz weiter. Marchal lässt seine Protagonisten, und mit ihnen seine Zuschauer, in die Hölle hinabsteigen und lässt sie dann dort allein zurück. Der Regisseur war in einem früheren Leben selbst Polizist, und es ist nur zu hoffen, dass es ihm mit diesem unbarmherzigen Film gelungen ist, seine persönlichen Dämonen auszutreiben.

MR73 – Bis dass der Tod dich erlöst
(MR73, Frankreich 2008)
Regie & Drehbuch: Olivier Marchal; Musik: Bruno Coulais; Kamera: Denis Rouden; Schnitt: Raphaëlle Urtin
Darsteller:
Daniel Auteuil, Philippe Nahon, Olivia Bonamy, Catherine Marchal, Francis Renaud
Länge: 121 Minuten
Verleih: Eurovideo

Zur DVD von Eurovideo

Die DVD ist qualitativ tadellos und bietet neben dem Hauptfilm ein knapp einstündiges, recht informatives Making-of.

Bild: 2,35:1 (16:9/anamorph)
Ton: Französisch, Deutsch (Dolby Digital 5.1)
Untertitel: Deutsch
Extras: Making-of
FSK: ab 16 Jahren

Diese DVD bei Amazon kaufen.

Schreibe einen Kommentar

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.