»The Communist who ate children«

Die Geschichte des Serienmörderfilms hat gezeigt, dass selbst die authentischen Stoffe selten einem dokumentarischen Gestus verpflichtet waren. Immer ist das Sujet an ein Projekt, nicht selten an ein politisches Projekt gebunden gewesen. Der Serienmörder wird im Film zu einem Statthalter für moralische, politische und sozialpsychologische Fragestellungen. In „Evilenko“ ist dieses Prinzip so deutlich wie selten zuvor: David Griecos Film erzählt die Geschichte des sowjetischen Serienmörders Andrej Chikatilo, der zwischen 1978 und 1990 55 Menschen, zumeist Kinder, vergewaltigt, ermordert und teilweise gegessen hat. Chikatilos Geschichte ist historisch mit dem Untergang der Sowjetunion, initiiert durch Gorbatschows Perestroika, verbunden.

Der Filmmörder wird von Beginn an als pädophiler, hochintelligenter und gerissener Sadist beschrieben. Sein Doppelleben ist so perfekt, dass selbst der KGB ihn als vermeintlich aufrechten Kommunisten rekrutiert. Unter dem Deckmantel der politschen Geradlinigkeit kann er jedem, der ihn verdächtigt, antikommunistische Gesinnungen vorwerfen. Als er seine Anstellung als Lehrer verliert, weil er eine kleine Schülerin sexuell bedrängt hat, schafft er es mühelos, der Schulleitung eine politsche Verschwörung zu unterstellen. Bei seiner Ehefrau gilt er als Kinderlieb (was sie sogar als Grund angibt, warum beide kinderlos geblieben sind und er Lehrer geworden ist) und der Polizei entwischt er mehrfach, weil er sich aus den Verdächtigungen gekonnt heraus redet.

Der Zuschauer bekommt das Treiben des Kannibalen jedoch distanzlos vor Augen geführt. Ob er einen schulschwänzenden Jungen in einer Zugtoilette mit dem Rasiermesser zerstückelt, ein kleines Mädchen vergewaltigt, tötet und den Leichnam mit einem Baumast penetriert oder einen Psychologen, der ihm auf den Fersen ist, aufschlitzt: Evilenko lebt sein Doppelleben in allen Facetten vor unseren Augen aus. Nur der ermittelnde Kommissar, der sich als einziger nicht auf überkommene kriminalistische Methoden verlassen will, gelangt dem Täter auf die Spur. Er war es auch, der jenen Psychologen (seines zeichens Psychoanalytiker) auf den Mörder angesetzt hat. Als der Serienmörder schließlich gefasst ist, begegnet er ihm im Gegensatz zur politischen Polizei auf Augenhöhe und bringt ihn so zu einem detaillierten Geständnis.

„Evilenko“ ist ein Film, der sich bewusst in die Tradition des realistischen Serienmörderfilms stellt. Viele seiner Erzählmomente kommen dem Zuschauer aus Genreklassikern wie „Es geschah am hellichten Tag“ oder „Nachts, wenn der Teufel kam“ bekannt vor. Damit rekurriert der Film auch an das Vorwissen seines Publikums, das ein fiktionales Produkt als umso authentischer Einstuft, je mehr es seinen ontologischen Status durch Zitation zu erhöhen vermag. Das großartige Schauspiel Malcolm McDowells in der Rolle des Serienmörders intensiviert die Präzision, mit der der Tätercharakter gezeichnet worden ist, noch zusätzlich. Und dennoch bleibt der Film eigenartig blas und unausgereift.

Bei einer derartig akribischen historischen Verortung des Stoffes und der Ausformulierung der politischen Parabel (mehrfach wird die Peristroika für die „Schizophrenie“ des Täters – ja eines ganzen Volkes verantworlich gemacht), ist die Recherche die sowjetischen Zu- und Umstände Mitte bis Ende der 1980er Jahre betreffend, doch etwas zu dürftig ausgefallen. Alles an „Evilenko“ wirkt wie der externe (westliche) Blick auf einen Kommunismus, welcher einem stets als Schreckgespenst vorgeführt wurde. So hinterlässt der Film gemischte Gefühle. Er schafft es nicht, sein Projekt – die Metaphorisierung des Serienmordes als politsches Phänomen – gelungen ins Bild zu (über)setzen, sondern zerfällt in seine Bestandteile, die für sich betrachtet gekünstelt und gleichzeitig unästhetisch wirken.

Evilenko
(Italien 2004)
Buch & Regie: David Grieco, Kamera: Fabio Zamarion, Musik: Angelo Badalamenti
Darsteller: Malcolm McDowell, Marton Csokas, Ronald Pickup, Frances Barber u.a.
Länge: 115 Minuten
Verleih: n.n.

Stefan Höltgen

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