Peter Fleischmann, um den es nach seinem Dokumentarfilm „Mein Freund der Mörder“ (2006) leider wieder etwas stiller geworden ist, zählt zu den Ausnahmefilmern des deutschen Kinos – nicht nur, aber vor allem auch weil er keine Angst vor den fantastischen Genres hatte und hat. Neben Rainer Erler und dem frühen Wolfgang Petersen hat er sogar eine regelrechte Genregeschichte des deutschen Nachkriegs-Science-Fiction-Films mitbegründet und gezeigt, dass aktuellere Produktionen wie etwa der gerade angelaufene „Die kommenden Tage“ durchaus auf einer soliden Genretradition fußt. Den Filmen ist gemein, dass sie eher der osteuropäischen, metaphyischen Linie der Science Fiction zugehören und ihre Zukunftsentwürfe viel offener für philosophische Reflexionen der Gegenwart nutzen, als das westliche SF-Kino. Peter Fleischmanns „Die Hamburger Krankheit“, der zuerst in der Arthaus-Jubliäums-Edition zum Neuen Deutschen Film erschienen war und nun auch als Einzel-DVD erhältlich ist, kündet offen genau davon.
Denn die „Hamburger Krankheit“, von welcher der Film erzählt, wird diagnostisch nie richtig eingegrenzt. Die Symptome sind immer die selben: zunächst erstarren die Erkrankten, dann brechen sie zusammen, kauern sich in die embryonale Haltung und sterben so. Ob es eine Infektion ist, ist ebenso ungeklärt, wie, wie die Krankheit übertragen wird. Der Film beginnt mit einem Kongress über das Altern, an dem auch der Gerontologe Sebastian teilnimmt. Sein Vortrag über den Unsinn lebensverlängernder Medizin in einer Gesellschaft, die die Alten wie Abfall behandelt, wird allerdings jäh unterbrochen, als vor dem Tagungsgebäude einer der Hauptredner von einer mysteriösen Erkrankung nieder gestreckt wird. Andernorts tut sich die junge Prostituierte Ulrike mit dem Bratwürstchenverkäufer Heribert und dem kleinwüchsigen Rollstuhlfahrer Ottokar zusammen, nachdem sie erfahren haben, dass eine von Ulrikes Freundinnen ebenfalls erkrankt ist. Sie versuchen zu fliehen, werden jedoch quarantäniert. Kurz darauf gerät auch Sebastian in die Quarantäne. Zusammen brechen die vier aus und versuchen sich mit Heriberts Wurstverkäufer-Wagen nach Lüneburg durchzuschlagen. Unterwegs begegnen ihnen Tod und Chaos. Die Krankheit breitet sich unaufhaltsam in Richtung Süden aus.
Dass die Krankheit nie genau beschrieben wird und die Tatsache, dass die an ihr erkrankten zuerst erstarren und dann förmlich regredieren, sagt schon einiges darüber aus, in welchem symbolischen Zusammenhang sie zu verstehen ist. Bis Sebastian, der diesen Zusammenhang durch stetiges Hinterfragen der Ordnungsstrukturen herstellt, ihr in der Mitte des Films selbst erliegt, haben wir es bei „Die Hamburger Krankheit“ mit einem handfesten apokalyptischen Seuchenfilm zu tun. Dann allerdings kippt sowohl die klare Genreeingrenzung als auch die Stimmung. Die Leitung der Gruppe übernimmt nun Alexander, gespielt vom Kommunarden Rainer Langhans. Dieser ist zwar eigentlich kein Schauspieler (was man seinem Agieren auch deutlich anmerkt), aber eine „Symbolfigur“. Als solche steht er eben genau gegen die Erstarrung und Regression der Gesellschaft, die sich in der Hamburger Krankheit ausdrückt.
Peter Fleischmanns Film ließe sich also als Diagnose in vielerlei Hinsicht wahrnehmen. Kurz nach dem „Deutschen Herbst“ und der Rückkehr der Innenpolitik zur Überwachungsstaatlichkeit, in einer Zeit des Niedergangs der Sozialdemokratie, der zunehmende Verschärfung des Kalten Krieges durch NATO-Doppelbeschluss und Einmarsch der Sowjets in Afghanistan 1979 sowie das Trauma der westlichen Welt angesichts des Vietnamkrieges – „Die Hamburger Krankheit“ ist das Symptom für all dies und vielleicht noch mehr. Fleischmann projiziert im Modus der Science Fiction eine Krise der Gegenwart auf die bundesrepublikanische Wirklichkeit, die von den meisten so vielleicht noch gar nicht wahrgenommen wurde. Seine Kranken bringen die Konversionen einer kulturellen Krisis hervor. Unterlegt wird dies mit der Musik aus Jean-Michel Jarres kurz zuvor erschienenem Album „Equinoxe“, dessen elektronischen Klanggewitter einen scharfen Kontrast zu den blass-verregneten BRD-Bildern bieten. Spätestens hierin wird klar, dass die Science Fiction nur einen Tarnung darstellt.
Die Neuveröffentlichung des Films ist deshalb auch gerade als Stimmungs- und Sittenbild der späten 1970er- und frühen 1980er-Jahre interessant. Umso umsichtiger erscheint es, dass der DVD Fleischmanns früher Dokumentarfilm „Herbst der Gammler“ von 1968 begefügt wurde – öffnet dieser doch eine Klammer der deutschen Wirklichkeit, die „Die Hamburger Krankheit“ wieder schließt und in der Symbolfiguren wie Rainer Langhans erst entstanden sind. Die bewusste Abgrenzung von den Werten der Elterngeneration kulminiert gut 10 Jahre nach der Revolte in die Katastrophe des institutionalisierten Widerstands und der Gewalt von Links. Dass die von Langhans gespielte Figur ausgerechnet in Bayern durch einen Jägertrupp erschossen wird, weil dieser einen Eimer mit gestohlener Kuhmilch für einen „bombenähnlichen Gegenstand“ gehalten hat, deutet aber nicht nur auf diese Lesart hin, sondern lässt Fleischmann auch die eigene Werksgeschichte (sein skandalumwitterter „Jagdszenen in Niederbayern“ handelt genau dort und im Prinzip davon) noch einmal herbei zitieren.
Die Hamburger Krankheit
(BRD 1979)
Regie: Peter Fleischmann; Buch: Peter Fleischmann, Otto Jägersberg, Roland Topor; Musik: Jean-Michel Jarre; Kamera: Colin Mounier; Schnitt: Susan Zinowsky
Darsteller: Helmut Griem, Fernando Arrabal, Carline Seiser, Ulrich Wildgruber, Peter von Zahn u. a.
Länge: 105 Minuten
Verleih: Kinowelt
Die DVD von Kinowelt
Etwas eigentümlich ist das Bildformat der DVD geraten: Nicht nur, dass der Film offenbar nicht anamorph codiert wurde, er weist eine vor allem bei den Titelschriftzügen deutlich erkennbare Beschneidung an der linken und rechten Seite auf. Ob dies auf die 16:9-Formatierung zurückzuführen ist, ist unklar.
Bild: 16:9
Ton: Deutsch (DD 2.0)
Untertitel: keine
Extras: Dokumentarfilm „Herbst der Gammler“, Interview mit Peter Fleischmann über „Die Hamburger Krankheit“, Trailer
FSK: ab 12 Jahren
Preis: 9,99 Euro